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Der singende Knochen

Melodram für Erzähler*in und Orchester

Dauer: 13'

Besetzung: 2222-2100-Perk (2 Spieler*innen)-Celesta/Cembalo-Harfe-Streicher

Vorwort

 

Das Märchen vom „Singenden Knochen“ begleitet mich bereits über zehn Jahre. Trotz seines heute etwas merkwürdig anmutenden Titels handelt es sich um eines der poetischsten, farbigsten und auch traurigsten Märchen der Brüder Grimm.

 

Zwei Brüder folgen dem Ruf eines Königs, der seine Tochter demjenigen verspricht, der das Land von einem Wildschwein befreit. Der jüngere betritt den Wald von Osten und begegnet einem Männlein, das ihm wegen seines guten Herzens einen schwarzen Speer gibt. Damit erlegt er das Wildschwein. Der Ältere, ein hinterlistiger, hochmütiger Mann, kommt von Westen. Er geht in ein Haus am Waldrand, wo er sich Mut antrinkt. Als der jüngere Bruder mit der Beute kommt, hält er ihn bis zum Abend hin und erschlägt ihn auf dem Heimweg in der Dunkelheit auf einer Brücke. Er begräbt ihn unter der Brücke, bringt das erlegte Schwein dem König und erhält die Königstochter.

 

Nach Jahren findet ein Hirte einen Knochen im Sand unter der Brücke und schnitzt daraus ein Mundstück für sein Horn. Als er darauf bläst, singt ihm der Knochen die Wahrheit vor:

 

„Ach, du liebes Hirtelein,

du bläst auf meinem Knöchelein,

mein Bruder hat mich erschlagen,

unter der Brücke begraben,

um das wilde Schwein,

für des Königs Töchterlein.“

 

Der Hirt wundert sich über den singenden Knochen und geht damit zum König. Wieder ertönt das Lied. Der König versteht, lässt das Gerippe des Ermordeten ausgraben und ehrenvoll bestatten. Der Mörder dagegen wird in einen Sack eingenäht und ertränkt.

 

Es geht also um Liebe und Tod, um einen Brüdermord aus Habgier und um späte Rache aus dem Grab. Eigentlich alles, was eine gute Geschichte benötigt, um das Publikum zu fesseln. So wird es vielleicht auch Wilhelm Grimm ergangen sein, als er sich diese Geschichte von seiner damals sechzehn Jahre alten Verlobten Dorothea Wild erzählen ließ.

 

Im Gegensatz zu Bechsteins „Klagendem Lied“ behandelt Wilhelm Grimm den Stoff sehr kompakt – die Geschichte passt gerade einmal auf eine DIN A-4 Seite. Viel Raum also für Musik und die lakonische Sprache lässt Raum für das Nicht-Sagbare. Für die Wanderungen „von Abend und von Morgen hinein“, die in meiner Partitur mit einem hypnotischen Orgelpunkt versehen sind, der die Perspektive auf das unausweichliche Unheil lenkt. Für die schwärmerische Unschuld und nie erwachte Liebe zwischen dem jüngeren Bruder und der Prinzessin, denen ich ein Liebesthema gegeben habe, obgleich die beiden unterschiedlichen Königskinder niemals zusammenkommen konnten. Außerdem hatte ich Spaß an einigen eklektizistischen Zitaten, die dem erfahrenen Musikliebhaber sicherlich gleich ins Ohr fallen werden: die Vogelrufe aus Ravels „Ma mere l’oye“ oder das Zitat eines Bach-Chorals in der Szene vor dem Wirtshaus („Komm, o Tod, du Schlafes Bruder“). Und vielleicht sind ja noch weitere Anspielungen versteckt?

 

Eine erste Fassung meiner Musik zum „Singenden Knochen“ haben wir – gemeinsam mit meiner Vertonung der französischen Originalfassung von „Dornröschen“ (mit dem kinderfressenden Oger) – 2019 im Berliner Zebrano-Theater uraufgeführt. Erzählerin war die damals neunjährige Emma Babel, die es trotz schwerer Erkältung fabelhaft gemacht hat. Wenn ich einen Wunsch freihaben dürfte: Lassen Sie die Geschichte gerne von einem Kind erzählen. Gruselige Geschichten können davon immer profitieren.

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